De Magnete |
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Vierhundert Jahre scheinen eine ungehörig lange Zeit für die Veröffentlichung einer Buchbesprechung zu sein, sogar für langsam lesende Rezensenten. Doch gibt es Gründe dafür, weshalb eine prompte Rezension schwierig gewesen wäre. Nicht nur ist De Magnete in Latein geschrieben, sondern zudem noch in der Form eines wissenschaftlichen Lehrbuchs. Das Sprachproblem wurde von Paul Fleury Mottelay und Silvanus P. Thompson überwunden, die das Buch 1893 bzw. 1900 ins Englische übersetzten. Letztere wurde von durch Chiswick Press herausgegeben und ist eine schöne und limitierte Sonderausgabe anläßlich des 300jährigen Jubiläums, die viel von der ursprünglichen Gestalt erhält und den Geist des Originals atmet. Wissenschaftliche Lehrbücher aber kannte man kaum, als De Magnete im Jahre 1600 erstmals erschien. |
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Gewiß war über einige wissenschaftliche Themen und sogar über den Geomagnetismus schon geschrieben worden (z.B. durch Petrus Peregrinus in seiner Epistola de Magnete, 1269), doch eher in Form von Berichten über Ausrüstung und Phänomene, nicht aber als tiefgreifende Darlegung eines Problems einschließlich experimenteller Beweise und deren Interpretation. Es gab also keine Elle, an der man De Magnete hätte messen können. Erinnern wir uns doch, es war nicht vor 1687, daß Newton seine Principia veröffentlichte. De Magnete erschien auch vor Keplers Astronomia Nova (1609), in der er erstmals zwei seiner drei Gesetze zur Planetenbewegung formulierte, und vor Galileis Sidereus Nuncius (1610), in der die ersten teleskopischen Beobachtungen astronomischer Objekte beschrieben wurden. |
William Gilbert (1544-1603) war der älteste Sohn von Jerome Gilberts
elf Kindern: vier aus erster Ehe und sieben aus zweiter. Verwirrenderweise
gab es einen zweiten William, der, was noch verwirrender ist, eine Erinnerungstafel
für "unseren" William errichtete, auf der dessen Geburtsjahr fälschlicherweise
mit 1540 angegeben wurde. Die Familie lebte in Colchester, etwa 50 Meilen
nordöstlich von London, wo Jerome den angesehenen Posten eines Richters
bekleidete. William erhielt die angemessene Erziehung für eine Gentleman
am St. John's College in Cambridge, wo er sich 11 Jahre bis 1569 aufhielt
und akademische Grade als Baccaleaurus und Master, eine Qualifikation als
Doktor der Medizin sowie ein Senior Fellowship erhielt. Es folgte eine
große Reise durch Europa, wobei er die meiste Zeit in Rom verbrachte,
bevor er 1573 nach London übersiedelte, um als Arzt zu praktizieren.
Seine medizinische Karriere war spektakulär erfolgreich und gipfelte
in der Präsidentschaft des Royal College of Physicians (1599) und
der Ernennung zum Leibarzt der Königin Elisabeth I (1601). Die Königin
starb zwei Jahre später, doch nicht durch Verschulden von Gilbert,
der weiter als königlicher Arzt (unter James VI und I) diente, bevor
er selbst 8 Monate später der Pest erlag. Erwähnenswert ist,
daß Mark Ridley, ein geringfügig jüngerer Geomagnetiker
(und Bekannter Gilberts, den er als den größten Entdecker in
der magnetischen Wissenschaft bezeichnete), ebenfalls als königlicher
Arzt diente - in seinem Fall dem Moskauer Zaren, Boris Godunow.
Gilberts Leistungen als Arzt hätten ausgereicht, um ihm Ruhm zu sichern, doch erinnert man sich heute seiner großen Untersuchungen zum Magnetismus und der Elektrizität, die er in De Magnete niederschrieb. Diese Untersuchungen wurden zwischen 1581 und 1600 parallel zu seiner medizinischen Karriere unternommen. Die Experimente wurden mit gleichgesinnten Freunden durchgeführt und diskutiert. Man traf sich zu diesem Zweck in Gilberts Haus, ganz in der Art, wie es ein halbes Jahrhundert später zur Gründung der Royal Society führte. Obwohl Magnetismus eigentlich sein Hobby war, nahm Gilbert, der niemals verheiratet war, diese Beschäftigung sehr ernst und brachte große Mengen Geld (£5000 nach William Harvey) für Instrumente und Ausrüstung auf. Das Buch selbst ist eine schöne Arbeit, durch Holzschnitte gut illustriert und durch Versalbuchstaben zu Beginn eines jeden Kapitels verschönt. Gliederungspunkte in zwei unterschiedlichen Größen ziehen die Aufmerksamkeit auf besonders wichtige Abschnitte. Nach dem Vorwort des Autors und einer historischen Einordnung von Edward Wright folgen 115 Kapitel, mitunter nur von einem Absatz Länge, die in sechs Büchern zusammengefaßt sind. Der Auto des Vorworts, Edward Wright (1558?-1615) erlangte übrigens dafür Berühmtheit, daß er die Mercator-Projektion auf ein solides mathematisches Fundament stellte. In seiner Gliederung ist das Werk einer modernen Doktorarbeit nicht unähnlich, beginnt es doch mit einer Revision früherer Schriften, führt experimentelle Resultate auf, diskutiert diese im Rahmen weltweiter Erkenntnisse und erwähnt schließlich ungelöste Probleme und spekulative Fragen. Das erste Buch beginnt mit einem historischen Überblick, wiederholt die wesentlichen magnetischen Eigenschaften von Magneteisenstein (Pole, Anziehung und Abstoßung, Magnetisierung von Eisen) und endet in einem berühmten Kapitel mit der These, daß die Erde selbst ein großer Magnet sei. Außerdem gibt es eine interessante Erörterung der medizinischen Eigenschaften von Eisen und Magneteisenstein, die mit der Schlußfolgerung endet, daß der Magnetismus hier keinen Einfluß hat, denn: "wenn in einem Getränk zerlöst" [der Magneteisenstein] "keine Anziehung oder Abstoßung auszuüben vermag". Im zweiten Buch wird eine klare Unterscheidung zwischen den anziehenden Eigenschaften von Magneten und geriebenem Bernstein vorgenommen: "denn es ist uns genehm, diese eine elektrische Kraft zu nennen." Viele magnetische und elektrostatische Experimente werden angeführt, einschließlich der Untersuchung des Einflusses zwischengelagerter Materialien, der Form von Magneteisenstein und der Wirkung einer "Armierung" der Pole mit Eisenkappen. Viel folkloristischer Irrglauben wird widerlegt, nicht zuletzt die Möglichkeit eines perpetuum mobile: "O daß die Götter doch schrecklich beenden würden solch fiktive, verrückte und deformierte Arbeit, durch die der Geist der Studierten geblendet wird!" Buch drei beschäftigt sich mit den Richtungseigenschaften eines Magneten. Es behandelt aber auch Details der Magnetisierung von Nadeln und der Verteilung des Magnetismus in einer Terrella (Gilberts Wort für einen kugelförmigen Magneteisenstein). Die Terrella-Experimente sind von besonderer Bedeutung, denn sie waren es, die Gilbert zur Erkenntnis einer Analogie zwischen dem Magnetfeld der Erde und dem einer Terrella führten. Diese Einführung in den Geomagnetismus wird in größerer Ausführlichkeit in Buch 4 entwickelt (über die Mißweisung [heute Deklination], die man damals "Variation" nannte) bzw. in Buch 5 (über die Neigung [heute Inklination], die Gilbert als Deklination bezeichnet). Das letzte Buch trägt spekulativeren Charakter. Es behandelt die Bewegung der Sterne und der Erde, welche Gilbert fälschlicherweise mit dem Magnetismus in Verbindung bringt. Er glaubte, dies unterstütze die Kopernikanische Theorie. Diese war jedoch unvereinbar mit religiösen Anschauungen, so daß in vielen der Europäischen Ausgaben von De Magnete das sechste Buch entfernt oder unkenntlich gemacht wurde. Nichtsdestotrotz inspirierte die Idee einer die Planetenbewegung kontrollierenden Fernwirkung die Gedanken von Hooke und Newton über die Gravitation. Eine bloße Inhaltsangabe kann jedoch dem Buch kaum gerecht werden. Man sollte sich nur andauernd vor Augen halten, wie früh dieses Buch erschien. Hier findet man die Wissenschaft Bacons, gegründet auf Experimente und Beobachtung anstatt auf Hörensagen, praktiziert bereits zwanzig Jahre vor dem Erscheinen von Bacons Novum Organum. Und über hundert Jahre vor Abschaffung der Prügelstrafe für einen Steuermann der Britischen Marine, dem man Knoblauch im Atem nachwies (man fürchtete, dies könne den Schiffskompass entmagnetisieren), entlarvt De Magnete die Ansicht als "Fabel und Falschheit" ein mit Knoblauch eingeriebener Magnet würde seine Kraft verlieren. All dies wurde zu einer Zeit geschrieben, als es Ketzerei war, Experimente gegen die Lehren der Kirche auszuführen. Tatsächlich wurde der Philosoph Giordano Bruno im Jahre 1600 der Ketzerei bezichtigt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Zugegebenermaßen waren die Zustände in England etwas entspannter als in Italien, doch war es dennoch mutig wenn nicht tollkühn, ein solches Buch zu publizieren. Der angegebene Preis für De Magnete könnte etwas irreführend sein, denn sogar ohne die Gunst dieser Rezension sind alle vier lateinischen Ausgaben von 1600, 1628, 1633 und 1892 (eine Faksimile der Erstausgabe) ausverkauft. Second-hand Ausgaben erscheinen ab und zu auf Auktionen, doch sind diese nicht billig: eine gut erhaltene Erstausgabe wurde kürzlich (Januar 1998) für 15,000 US Dollar verkauft. Die von Thompson übersetzte, englische Ausgabe von Chiswick Press (1900) war auf 250 Exemplare limitiert und ist gegenwärtig praktisch nicht erhältlich. Sie wurde jedoch 1958 durch Basic Books in Faksimile in einer neuen Edition und mit einer Einführung von Derek J. de Sola Price wieder aufgelegt. Eine Neuauflage von Mottelays Übersetzung wurde 1958 von Dover herausgegeben und ist noch immer im Druck. Wenn der Leser sich erst an den unvermeidlich archaischen Stil gewöhnt hat, ist De Magnete ein erstaunlich lesbares Buch. Wissenschaftshistorikern muß man das Buch wohl kaum empfehlen, denn diese werden es ohnehin schon gelesen haben. Ein jeder Geophysiker hingegen würde nicht nur Nutzen aus dem Buch ziehen, sondern sich sicher auch an der Lektüre erfreuen. |
Dieser Artikel wird mit Genehmigung des Direktors des British Geological
Survey (NERC) veröffentlicht.
Stuart Malin, Bogaziçi University, Istanbul, Turkey David Barraclough, British Geological Survey, Edinburgh, UK |
Autor und Kurator: Dr. David P. Stern
E-mail an Dr.Stern: earthmag("at" symbol)phy6.org
Deutsche Bearbeitung: Sven Friedel, Universität Leipzig
Letzte Änderung 17. September 2001