"De Magnete" |
Erstausgabe bei Chiswick Press, London 1600 |
"Wenn ich weiter sah, so weil ich auf den Schultern von Giganten stand" Newton an Hooke, 1676 |
Welcher Meilenstein markiert den Beginn der modernen Wissenschaften?
Einige werden ihn Kopernikus
(1543) zuschreiben, Kepler
(1609) oder Galilei
(1610), doch Wiliam Gilberts Buch "De Magnete", verfaßt im Jahre
1600, hat mindestens einen ebenso großen Anspruch darauf. In Anbetracht
der unheimlichen (und zugleich außerordentlich nützlichen) Eigenschaft
der Kompaßnadel, sich stets gen Norden auszurichten, war es
Gilberts Ziel, alles ihm mögliche über den Magnetismus herauszufinden.
Als er begann alle verfügbare Literatur zu lesen und zu prüfen, fand er ziemlich wenig von Wert darin. Er machte sich also daran eigene Experimente zu entwerfen, nicht nur zur Erkundung der magnetischen Kräfte, sondern auch der "elektrischen" (deren Namen er auch prägte). Instinktiv fühlte er die Verwandtschaft dieser Kräfte. Seine Studien umfaßten sowohl natürlich vorkommende Magneteisensteine - sogenannte "loadstones" (Leitsteine) - und künstlich magnetisiertes Eisen. Er verstand außerdem vollkommen das Wesen des induzierten Magnetismus, die Tatsache, daß ein Stück nichtmagnetischen Eisens zeitweilig alle Eigenschaften eines Permanentmagneten aufweist, wenn man es in die Nähe eines solchen bringt. |
|
Gilbert beobachtete alsdann das Verhalten einer kleinen Kompaßnadel ("versorium"), die er über die Oberfläche einer Magnetkugel bewegte. Offensichtlich verhielt sie sich genau so wie eine Kompaßnadel auf der Erde. Die Nadel zeigte nicht nur polwärts zeigte, wenn man ihre Bewegung auf eine "horizontale" Ebene tangential zur Kugeloberfläche beschränkte: nein, sie neigte sich auch in einem Winkel abwärts (siehe Abbildung oben), wenn man sie drehbar auf einer horizontalen Achse lagerte. Dies entsprach der "magnetischen Neigung", die 1581 von Robert Norman entdeckt worden war. Gilberts Experimente mit seiner kugelförmigen "Terrella" ("kleine Erde") überzeugte ihn von seiner aus heutiger Sicht bedeutendsten Entdeckung. Die mysteriöse Ausrichtung der Kompaßnadel, so schlug er vor, folge aus der Tatsache, daß die Erde selbst ein riesiger Magnet sei. |
|
Von Beruf war William Gilbert (1544-1603) ein herrausragender Arzt. 1601 wurde er sogar zum königlichen Leibarzt von Queen Elizabeth I ernannt. Die Queen starb zwei Jahre später und auch Gilbert erlag nicht lange danach der Pest, die London zu dieser Zeit häufig heimsuchte. Seine lebenslange Leidenschaft hatte jedoch dem Magnetismus gegolten, "De Magnete" - untergliedert in sechs "Bücher" - war sicherlich seine größte Leistung. In der Einführung zu Gilberts Hauptwerk bemerkte Edward Wright, sehr richtig:
|
||
"De Magnete" wurde in Latein geschrieben, doch es existieren zwei hervorragende Übersetzungen ins Englische, eine von Paul Fleury Mottelay (1893) (noch immer im Druck bei Dover Books für $13.95) und eine prächtigere von Silvanus Thompson (1900), aus der die Passagen hier im Text zitiert wurden. Mit seinem schwerfälligen Satzbau und Absätzen, die sich über Seiten erstrecken, ist das Werk selbst in der Übersetzung eine Herausforderung . Doch durch all das können wir den Autor erkennen, wie er mit seinem Material kämpft, und versucht ihm Sinn abzuzwingen, irgendein logisches Muster in rätselhaften und widersprüchlichen Aussagen und Beobachtungenzu erkennen. Dies ist Wissenschaft in ihrer ursprünglichsten Form. Newton mag "auf den Schultern von Giganten" gestanden haben, doch Gilbert mußte sein Verständnis von Grund auf bauen. |
Gilbert war ein scharfsinniger Beobachter, doch war das oft nicht genug.
Er bemerkte, daß Feuchtigkeit statische Elektrizität unterbrach
(z.B. die Feuchtigkeit des Atems) - ein Ölfilm aber nicht, und Wassertröpfchen
selbst wurden von elektrischen Kräften angezogen. Er beobachtete,
wie magnetische Kräfte Flammen durchdrangen - doch auch, wie magnetisches
Eisen all seine Kraft verlor, wenn es bis zur Rotglut erhitzt wurde. Was
bedeutete all dies, mag er sich wohl gefragt haben?
Sind die Antworten erst bekannt, kann man nimmermehr zurück in den Nebel der Unkenntnis, zurück zur Frustration nicht zu Wissen, nicht fähig zu sein, eine Verbindung zu erkennen. "De Magnete" zu lesen, bringt uns vermutlich sehr nahe daran, diese Erfahrung noch einmal zu durchleben. Gilbert vermerkte genauestens, daß Gußeisen nur schwach magnetisch ist und daß lange Eisenstäbe Pole an ihren Enden aufweisen. Warum? Weshalb? Für uns ist es einfach, weise zu lächeln und zu sagen, ja freilich, das Eisen konservierte das umgebende magnetische Feld, während es unter den Curie-Punkt abgekühlt wurdet, und Feldlinien werden durch die Form der Stäbe so kanalisiert, daß sich an den schmalen Enden ein konzentrierter Effekt ergibt. Doch sagen wir heute, und jenes war damals. Nicht alle Behauptungen Gilberts haben die Prüfung der Zeit bestanden. Gilbert glaubte, daß der Magnetismus der Erde und ihre Rotation eine gemeinsame Ursache besitzen. Die Tatsache, daß magnetisch Nord und astronomisch Nord sich so nahe waren, schien mehr als ein Zufall zu sein. Obgleich diese reine Vermutung heute mit äußerster Vorsicht behandelt wird, erfreute sich die Idee etwa Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts durch P.M. Blackett einer kurzzeitigen Wiederbelebung. An der Erdrotation gab es für Gilbert niemals einen Zweifel. Für andere mag die Erde der Mittelpunkt der Schöpfung gewesen sein, um die alle Sterne und andere Himmelskörper kreisten - doch nicht für Gilbert. Er berechnete die Geschwindigkeiten, die aus dieser Annahme folgen müßten - und fand sie viel zu hoch, unglaublich hoch. Vergessen wir in diesem Zusammenhang nicht, daß 1600 auch das Jahr war, in dem Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Die Hypothese einer Erdrotation mußte (im Mindesten) in Einklang mit den religiösen Dogmen gebracht werden. Edward Wright versuchte dies in seiner Einleitung in folgenden Worten:
|
|
Gilbert prüfte diese Hypothese experimentell:
Indem er den Kompaß um die beschädigte Terrella bewegte, fand Gilbert seine Hypothese bestätigt. Jenseits des ausgehöhlten Teils und gleichfalls im Zentrum des Grübchens zeigte das "versorium" zum magnetischen Pol. Doch an den Rändern der Vertiefung wich die Richtung der Nadel (im Bild kaum sichtbar) in Richtung der unversehrten Kugelteile ab, gerade so, wie sich die Kompaßnadel im Ozean nahe den Küsten Europas und Amerika jeweils dem näheren Kontinent zuneigte. Da sich aber Vertiefungen und Erhöhungen im Erdkörper (wenigstens seit Menschengedenken) kaum änderten, implizierte Gilberts Theorie, daß die "Variation" zeitlich konstant sein müsse und sich nicht ändern würde: |
Doch gibt es in "De Magnete" gibt es mehr, viel mehr, oft ausgeschmückt in blumigen Formulierungen, die kein moderner Herausgeber je durchgehen lassen würde. Wie gespreizt doch moderne wissenschaftliche Prosa im Verglich zu Gilberts Worten klingt. Hier zum Beispiel, schlägt er vor, wie man den Neigungswinkel der Kompaßnadel (sein Ausdruck dafür ist "Deklination" heute wird er Inklination gennannt) benutzen kann, um bei bedecktem Himmel die geographische Breite zu bestimmen:
Und all jene, die heute an die ganzheitliche Magie magnetischen Schmucks glauben, sollten sich Gilberts Rat zu Herzen nehmen:
Der Grund dafür ist nicht, daß wir weiser wären oder genialer. Wir stehen nur auf den Schultern von Giganten - von denen ganz sicher Gilbert einer war.
|
Hintergrund: London um 1600 Nächste Station: Mehr über "De Magnete" Alternative nächste Station: Magnetismus von Gilbert bis 1820 Für all die, die mehr wissen möchten (und Zugang zu
einer umfangreicheren Bibliothek haben):
|
Autor und Kurator: Dr. David P. Stern
E-Mail an Dr.Stern: earthmag("at" symbol)phy6.org
Deutsche Bearbeitung: Sven Friedel, Universität Leipzig
Letzte Änderung 17. September 2001